Von Schwarzen Löchern und Guarana
Nach meiner Teilnahme an der Schweizer Physikolympiade erfuhr ich von einem Freund von einem ähnlichen Wettbewerb, der Astronomie- und Astrophysikolympiade. Da sich die Schweiz dieses Jahr zum ersten Mal an diese Olympiade heranwagte, galt es sich landesweit nur gegen rund fünfzig Mitbewerberinnen und -bewerbern statt den bei bereits länger bestehenden Olympiaden sonst üblichen ein- bis zweitausend durchzusetzen. Mit dem Erreichen des dritten Rangs gehörte ich dann dem Team an, das die Schweiz an der 17. Internationalen Astronomie- und Astrophysikolympiade – kurz IOAA – in Brasilien vertreten sollte.
Als Vorbereitung auf den internationalen Wettkampf gab es zahlreiche Vorlesungen zu den verschiedenen prüfungsrelevanten Themen. Seien es das sphärische Koordinatensystem oder die physikalischen Phänomene im Inneren eines Sterns – für alles fand sich ein hilfsbereiter ETH-Student, der uns die jeweiligen Konzepte in verständlicher Form näherbrachte. Auch ein gemeinsames Wochenende in der Sternwarte Rümlang zwecks Erlernens der für praktische Observationen notwendigen Fähigkeiten und allgemeinen gegenseitigen Kennenlernens kam uns zugute. Gut vorbereitet stand unserem Abenteuer in Brasilien dann nichts mehr im Weg.
Von Zürich aus und über Paris flog unser Team, das aus drei Teilnehmern, einem Leader und einem Observer bestand, nach Rio de Janeiro. Dort trafen wir erstmals auf einige der anderen nationalen Teams. Erschöpft von der jeweiligen Anreise, die für kaum jemanden weniger als einen Tag beanspruchte, fiel die allgemeine Redseligkeit leider entsprechend bescheiden aus. Erst am Tag darauf, bei der Eröffnungszeremonie, wurden erste Kontakte geknüpft und erste Schweizer Schokoladenspezialitäten à la Migros verteilt. Der darauffolgende Morgen begann mit der «group competition», in der die Deviation zwischen dem magnetischen und dem geografischen Norden bestimmt werden sollte. So liessen sich die Tage in Brasilien recht entspannt an. Das Essen war stets ausgezeichnet, die dazu gereichten exotischen Fruchtsäfte und der nationale Softdrinkklassiker namens Guarana ebenso, und die vorherrschende Stimmung war gelassen. Unser allgemeiner Frohsinn hielt an, bis am nächsten Morgen die Prüfungen begannen.
Der Dienstag, 20. August begann mit einer fünfstündigen theoretischen Prüfung. Elf Fragen waren dabei zu beantworten, wobei kein einziger der insgesamt 236 Teilnehmenden alle Aufgaben zu lösen vermochte. Für unser Team lag der Erfolg letztlich auch eher in Form von gesammelter Erfahrung als in guten Punktzahlen vor. Um die nach dieser Prüfung leicht lädierten Gemüter nicht zu sehr zu überfordern, begann der nächste Tag mit einer Exkursion in den botanischen Garten Uaná Etê im nahe gelegenen Vassouras. Vom Geist der brasilianischen Flora und Fauna durchströmt fanden sich am Abend alle Teilnehmenden zur Observationsrunde ein. Die horizontalen Koordinaten eines künstlichen Sterns auf dem nächstgelegenen Hügel in Gestalt einer Taschenlampe waren zu bestimmen und danach noch einige weitere Aufgaben auf Papier zu lösen. Einem Grossteil der teilnehmenden Teams kam das sehr entgegen, da das Ausrichten eines Teleskops in der südlichen Hemisphäre um einiges anspruchsvoller ist als in der nördlichen, ganz besonders ohne vorheriges Üben. Der Donnerstag begann mit Trainingsrunden in einem aufblasbaren Planetarium und einem der in Brasilien durchaus häufigen Stromausfälle. Glücklicherweise war unser Hotel mit einem direkt neben dem aufblasbaren Planetarium installierten, gigantischen, laut dröhnenden und schwarz rauchenden Notstromaggregat gut dagegen gewappnet. Es folgte die Runde der Datenanalyse, die aus Sicht des Schweizer Teams abermals eher als «interessant» mit stark inferiorer Konnotation denn als «erfolgreich» oder «machbar» tituliert werden dürfte. Am nächsten Morgen, nach einer doch eher gelungenen Prüfungsrunde im Planetarium, war für uns Teilnehmer der anspruchsvolle Teil der Woche vorüber.
Zelebriert wurde dieser Meilenstein noch am selben Abend in Form eines «cultural evening», zu dem auch unsere Leader und Observer anreisten. Zu diesem kulturellen Abend war jedes Team dazu angehalten, in traditioneller Kleidung und mit den jeweiligen Landesflaggen aufzutreten. Da leider keiner von uns Schweizern einen passenden Chüeligurt oder ein Edelweisshemd bei sich zu Hause hatte auftreiben können, mussten in unserem Fall am Flughafen erstandene Fahnen und T-Shirts mit dem Schweizerkreuz darauf herhalten. Nebst den Fahnen und der Kleidung hatte jedes Land zusätzlich noch die Gelegenheit, sich mit einer kurzen Aufführung auf einer kleinen Bühne zu präsentieren. Aufgrund eines auffälligen Mangels an international bekannter Schweizerdeutscher Musik und des Luxus, bei der Wahl eines Liedes auch auf eine der anderen Landessprachen ausweichen zu können, führten wir unter grossem Jubel das – nicht ganz schweizerische – Lied «Bella Ciao» auf. Die folgenden zwei Tage standen den Teilnehmern zur freien Verfügung. Es wurde im See gebadet, Volleyball gespielt, Runde um Runde im ирски покер verloren und nebenbei immer mal wieder in den Sternenhimmel geschaut und über das Universum sinniert.
Die Abschlusszeremonie bildete wie immer den Höhepunkt der Olympiade. Mit einer amüsanten Rede vom brasilianischen CASIO® Vertreter, Auszügen aus Dvořáks 9. Sinfonie und einigen Ansprachen wichtiger Vertreter der brasilianischen Politik wurde feierlich eröffnet, bevor die Rangverkündigung begann. Auch wenn das Schweizer Team keine Medaille oder Ehrenmeldung erringen konnte, war das Ergebnis ein kleiner Erfolg. In Anbetracht dessen, dass dieses Jahr die erste Schweizer Teilnahme an einer IOAA markierte, schnitten wir doch vergleichsweise akzeptabel ab.
Was allerdings viel wichtiger als dieser Erfolg auf dem Papier ist, sind die Erfahrungen, die ein jeder von uns während dieser Zeit gewonnen hat. Zahllose Gespräche und sonstige gemeinsame Momente mit Teilnehmenden aus aller Welt werden uns auf Lebzeiten eine Bereicherung sein. Mit der Aufnahme der Astronomie- und Astrophysikolympiade in den Dachverband aller Schweizer Wissenschaftsolympiaden, die schon Ende November dieses Jahres erfolgte, stehen die Chancen gut, dass ein solches Erlebnis noch vielen zukünftigen interessierten Schülerinnen und Schülern zuteil wird – womöglich auch eines Tages einigen weiteren Schülern und Schülerinnen der Stiftsschule Engelberg.
Luis Gördes
Matura 2024