Kartoffelpflutä und Filet de bœuf
Im Archiv des Tal Museums Engelberg befindet sich ein Heft, das um das Jahr 1900 von einer Dorfbewohnerin namens Theresia Waser (1831–1919) verfasst wurde. Sie war ein bis heute in Erinnerung gebliebenes Dorforiginal, aufgrund ihrer Tätigkeit als Pöstlerin auch bekannt unter dem Übernamen «Post-Theresli». In ihrem Kochtagebuch schrieb sie auf, was sie jeden Tag zu Mittag ass, hielt die Rezepte ihrer Mahlzeiten fest und dokumentierte, wie viel sie für die jeweiligen Zutaten ausgab. Das Kochtagebuch ist für die Geschichte des Tals eine einzigartige Quelle, weil es für Engelberg keine vergleichbaren Dokumente aus dieser Zeit gibt, die Informationen zur Ernährung der einfachen Bevölkerung enthalten. Mehr Informationen liegen zur Esskultur in den Belle-Époque-Hotels vor. Unter anderem befinden sich im Staatsarchiv Obwalden Menüpläne von 1881 des Hotels Titlis, das mit ca. 200 Betten eines der grössten und luxuriösesten Hotels jener Zeit in Engelberg war. Aufgrund dieser Ausgangslage ergab sich die Möglichkeit, die beiden Quellen miteinander zu vergleichen und folgende zentrale Forschungsfrage zu formulieren: Welche Unterschiede bestehen zwischen den verwendeten Nahrungsmitteln in einem Privathaushalt und einer Hotelküche am Ende des 19. Jahrhunderts in Engelberg? Der weitere Arbeitsprozess bestand aus einer Recherche und Zusammenfassung des historischen Hintergrunds, der Transkription der beiden Quellen und einer statistischen Auswertung der im Kochbuch und in den Menüplänen verwendeten Lebensmittel. Durch den Vergleich liessen sich folgende Ergebnisse herausarbeiten.
Im Zeitraum der Entstehung beider Schriftquellen befand sich Engelberg im Wandel. Zwei Welten – die bäuerlich geprägte Bevölkerung und die internationale Oberschicht, welche in den Luxushotels zu Gast war – trafen aufeinander. Dieses Aufeinandertreffen spiegelt sich unter anderem in den untersuchten Quellen und ihren Unterschieden wider. Es lassen sich einige zentrale Unterschiede feststellen: Die grösste und auffallendste Differenz besteht darin, dass das Hotel über die Mittel verfügte, hochwertige und teure Nahrungsmittel zu beschaffen. Vor allem beim Fleisch, Fisch und Obst war das Angebot exklusiv. Sogar Ananasse aus Übersee fanden ihren Weg auf die Teller der Hotelgäste. Es ist ein deutliches Zeichen von Luxus, dass täglich frischer Fisch, der in kurzer Zeit vom Meer über die Alpen transportiert werden musste, serviert wurde. Im bescheidenen Privathaushalt von Theresia Waser wurde nie Fisch gegessen. Sie lebte und kochte sehr einfach, dennoch legte sie Wert darauf, das Beste aus ihren bescheidenen Mitteln zu machen. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass sie immer wieder Fleisch sowie eine grosse Variation an Gemüse auf den Teller brachte und Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln auf verschiedenste Weisen zubereitete. Dabei sind ihre Rezepte aber immer regional geprägt – so kommen bei ihr Gerichte wie «Kartoffelpflutä», «Ännisbrötli» oder «Fotzelschnitten» auf den Tisch. Die aufgezeigten Differenzen in den verwendeten Nahrungsmitteln stehen letztlich auch für die Unterschiede zwischen Hotels und einheimischen Privathaushalten, die der Tourismus mit sich brachte.
Anna-Mira Risi
Maturaklasse 2024